Stellungnahme zum neuen S-Bahn-Tunnel für Graz

Jetzt aber richtig!
Anmerkungen zum neuen S-Bahn-Tunnel für Graz
von Jördis Tornquist, Johannes Fiedler, Fabian Wallmüller

S-Bahn- und Straßenbahnnetz der Stadt Graz. Blau: Bestandslinien der S-Bahn. Rot strichliert: Der geplante S-Bahn-City-Tunnel. Schwarz strichliert: Geplante S-Bahn-Südspange Raaba-Flughafen Thalerhof. Schwarz: Bestandslinien der Straßenbahn. Bild: Studie der Hüsler AG, PRIMEmobility und GVS vom 07.11.2022.

Jetzt ist es also fix: Graz will den City-Tunnel für die S-Bahn. Die Grazer Rathaus-Koalition (KPÖ, Grüne, SPÖ) hat sich Anfang November auf die Durchführung der S-Bahn durch die Grazer Stadtmitte verständigt und eine konkrete, vom Schweizer Verkehrsexperten Willi Hüsler konzipierte Trasse vom Hauptbahnhof über eine neue Station am Jakominiplatz bis zum Ostbahnhof festgelegt (Bild). Diese Entscheidung, die einen endgültigen Schlussstrich unter sämtliche Gondel- und U-Bahn-Pläne der letzten Jahre zieht, sollte man nicht unterschätzen. Sie wird massive Auswirkungen auf die kommenden Jahrzehnte der Stadt- und Regionalentwicklung im Großraum Graz haben.

Zunächst ist der neue City-Tunnel, der frühestens ab 2030 gebaut werden soll, als Bekenntnis zur S-Bahn positiv zu bewerten. Der Tunnel stärkt das vorhandene, Stadt und Umland verbindende S-Bahn-Netz, wo für den öffentlichen Verkehr tatsächlich am meisten zu holen ist. Denn während bereits heute 45 Prozent der 700.000 täglichen innerstädtischen Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden, beträgt der Anteil des öffentlichen Verkehrs bei den 450.000 täglichen Fahrten über die Grazer Stadtgrenze gerade einmal 15 Prozent. Für all jene, die täglich mit dem Auto nach Graz einpendeln, wird die S-Bahn also bald eine echte Alternative sein, um umstiegsfrei aus dem Umland direkt ins Zentrum der Stadt zu kommen. Außerdem wird der City-Tunnel aller Voraussicht nach durch den Bund mitfinanziert – es winkt eine mögliche Beteiligung zwischen 50 und 80 Prozent.

Auch aus Sicht der Stadtentwicklung ist die Stärkung des S-Bahn-Netzes positiv, da so wichtige Wachstumsimpulse entlang aller bestehenden S-Bahn-Trassen – das sind allein im Grazer Stadtgebiet immerhin rund 40 Kilometer – gesetzt werden können. Außerdem verlaufen diese Trassen genau dort, wohin sich die Stadt zukünftig entwickeln wird: im Süden der Stadt. Auch die im von Hüsler vorgelegten S-Bahn-Konzept angedachte neue Südspange am südlichen Stadtrand zwischen Raaba und Flughafen Graz wird ein wichtiger Systemschluss für die dortigen, dynamisch sich entwickelnden Erweiterungsgebiete sein.

Es ist aber auch die Stadtentwicklung, wo die Kritik am City-Tunnel ansetzt. Zum einen fußt der City-Tunnel auf rein verkehrlichen Überlegungen; Aspekte der Stadtentwicklung, also die Frage, welche Stadtgebiete nicht nur heute, sondern vor allem in Zukunft öffentlich erschlossen werden sollen, blieben bisher völlig außer Acht. Dabei geht es gerade auch um die Zukunft: Der 3,1 Milliarden Euro teure City-Tunnel ist die mit Abstand größte öffentliche Investition, die Graz seit der Gründerzeit tätigt. Diese sollte wohlbegründet sein, will sie kommende Debatten schadlos überstehen. Die Kritik am City-Tunnel, das ist schon jetzt absehbar, wird sich vor allem daran festmachen, dass diese neue unterirdische Verbindung bestehende Straßenbahnlinien verdoppelt, aber auch daran, dass entlang ihrer Trasse, die durch dicht verbautes Stadtgebiet führt, keinerlei neue Wachstumsimpulse für die Stadt zu holen sind. Außerdem wird die ohnehin schon problematische Zentralisierung des öffentlichen Verkehrs in Graz durch den City-Tunnel weiter einzementiert. Der Jakominiplatz bleibt zentrale Drehscheibe und wird ein zusätzliches Verkehrsaufkommen – wir sprechen von rund 100.000 neuen S-Bahn-Fahrgästen täglich – bewältigen müssen.

Es ist an dieser Stelle auch noch einmal die Strukturfrage zu stellen: Braucht Graz transversale oder tangentiale neue Verbindungen für den öffentlichen Verkehr? Die S-Bahn ist ein regionales Verkehrsmittel, sie eignet sich zur Urbanisierung von Flächenbezirken und deren Vernetzung mit dem Umland – siehe Paris, Berlin, München. Für Graz müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Innenstadt nicht mehr das ultimative Ziel aller Wege ist, vielmehr geht es im Alltag um die Erreichbarkeit der großen Betriebe wie Wirtschaftskammer, Universität, LKH, und um die Einbindung der großen Wohnanlagen in Waltendorf und St. Peter in den regionalen Kontext. Und es geht darum, dem florierenden und sich selbst verstärkenden automobilen System in den Grazer Stadtrandgebieten etwas entgegenzustellen. Mit anderen Worten: Graz benötigt einen S-Bahn-Gürtel im Osten der Stadt, aber auch Ost-West-Verbindungen in den südlichen Stadtgebieten. Der transversale City-Tunnel ist vor diesem Hintergrund kein Beitrag zu einer zukunftsweisenden Stadtstruktur.

Im Dezember soll der neue City-Tunnel im Gemeinderat beschlossen werden. Wenn man diese dann auch demokratisch legitimierte Entscheidung zur Kenntnis nehmen will, stellen sich viele Fragen für die weiteren Planungen dieses Großprojekts.

Zunächst verkehrlich: Wie kann die S-Bahn durch die Erhöhung der Taktfrequenz, durch den Ausbau der S-Bahn-Bahnhöfe in und um Graz zu attraktiven, intermodalen Umstiegspunkten, aber mittelfristig auch durch den Bau weiterer S-Bahn-Trassen in derzeit unterversorgte Stadtgebiete zu einem echten Erfolg gemacht werden? Kann man sich ein Sowohl-als-auch, also Transversale plus Tangentiale vorstellen, und wenn ja, was ist die richtige Abfolge? Welche Push-Maßnahmen wird es aber auch brauchen, um mehr Menschen zum Umstieg auf die S-Bahn zu bewegen – Stichwort regionale MIV-Maut, Stichwort Reduktion der Parkplatzanzahl, Rückbau mehrspuriger Straßen, flächendeckendes Tempo-30-Limit?

Dann Stadtentwicklung und Stadtplanung: Wie können die erwartbaren Wachstumsimpulse entlang des S-Bahn-Netzes dazu genützt werden, um Graz und sein Umland – in diesem Ballungsraum leben immerhin 637.000 Menschen – als einen auch stadträumlich gedachten zusammenhängenden Siedlungsraum zu entwickeln (Stichwort „Grand Graz“)? Wie können insbesondere im Grazer Stadtgebiet die neu entstehenden Subzentren rund um die S-Bahnhöfe dazu genutzt werden, um das Stadtzentrum zu entlasten und Graz zu einer polyzentrischen Stadt zu entwickeln? Welche stadträumlichen Qualitäten erwarten wir uns in diesen neuen Zentren hinsichtlich Bebauungsdichte, Bebauungshöhe, öffentlicher Raum, aber auch in Bezug auf programmatische Angebote wie öffentliche Einrichtungen, Bildung, Arbeit, Freizeit?

Zusätzlich stellen sich mit Blick auf die zukünftigen Hauptverkehrsnoten des neuen S-Bahn-Netzes – Jakominiplatz, Hauptbahnhof, Ostbahnhof und Nahverkehrsknoten Gösting – bereits jetzt schon architektonische Fragen. Welche gestalterische Bedeutung soll an diesen Orten zukünftig der öffentliche Raum haben, welche der Verkehr? Auch Fragen der baulichen Nachverdichtung rund um alle oben genannten Hauptverkehrsknoten sollten kein Tabu sein.

Nicht zuletzt gilt es aber auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zu klären. Wenn Private von der Wertsteigerung entlang des durch die öffentliche Hand ausgebauten S-Bahn-Netzes profitieren, muss die Frage gestellt werden, wie ein Anteil dieser Wertsteigerung an die öffentliche Hand rückgeführt werden kann. Das Instrument des Planwertausgleichs, in mehreren Ländern wie der Schweiz bereits erfolgreich angewandt wird, kann hier Antworten geben.

Graz hat mit dem Bekenntnis zum S-Bahn-Ausbau im Stadtgebiet eine wichtige Grundsatzentscheidung für die Zukunft der Stadt und ihres Umlands gefällt. Die Arbeit an der sinnstiftenden Umsetzung dieser Entscheidung beginnt aber gerade erst. Wesentlich für die Zukunftstauglichkeit aller weiteren Planungen der Stadt Graz wird es sein, Expert:innen aus allen oben genannten Fachbereichen – Stadtentwicklung, Stadtplanung, Verkehrsplanung und Architektur – einzubinden, aber auch die öffentliche Debatte zu suchen, um den notwendigen öffentlichen Rückhalt für dieses Jahrhundertvorhaben zu schaffen. 

Weiterführende Links zum Thema unter www.gat.st/news/jetzt-aber-richtig